Schon mal ein Loch in deiner eigenen Hand gesehen? Das klingt vielleicht verrückt, ist aber das Ergebnis eines kleinen Experiments, das jede:r selbst durchführen kann. Man nimmt eine Kartonrolle, hält sie vor ein Auge und fokussiere mit beiden Augen auf die Handfläche. Plötzlich sieht man ein Loch. Das Phänomen dahinter nennt sich „binokulare Rivalität“.
„Unsere Augen sehen immer zwei leicht unterschiedliche Bilder, die das Gehirn wie ein Puzzle zu einem einzigen 3D-Bild zusammensetzt“, sagt Natalia Zaretskaya, Leiterin des Forschungsteams „Visuelle Neurowissenschaft“ an der Universität Graz. Die Psychologin erforscht mit ihrem Team nicht nur wie wir sehen, sondern auch wo genau im Gehirn das Bewusstsein – also das „Ich“ – eigentlich sitzt.
Unterschiedliche Bilder
„Ein heißer Kandidat dafür ist der Bereich, in dem das Gehirn aus zwei unterschiedlichen Eingaben eigenständig etwas Neues schafft“, erklärt die Forscherin. Um das zu untersuchen, nutzt sie die binokulare Rivalität und verwendet dabei 3-D-Brillen, wie man sie aus dem Kino kennt. Durch polarisierte Gläser werden den Augen zwei Bilder gezeigt, die so unterschiedlich sind, dass das Gehirn sie nicht zusammenfügen kann – beispielsweise nach links geneigten diagonalen Linien für das eine Auge und nach rechts geneigte für das andere.
„Die Testpersonen erleben einen Wechsel zwischen den Bildern, einen Übergang“, erklärt Cemre Yilmaz, Doktorandin im Labor und Hauptautorin der Studie. Diesen Effekt kennt man zwar schon lange, allerdings wurde er in der Forschung bisher nur wenig beachtet Bisher wurde nur die Dauer der Übergänge untersucht‘, sagt Yilmaz. Die Forscher suchten jedoch nach etwas anderem. “Wir haben unsere Testpersonen gefragt: Wie nehmt ihr diese Wechsel wahr?“ Das Ergebnis war für das Forschungsteam überraschend: „Wir konnten 20 unterschiedliche Arten identifizieren, wie Menschen diese Bildwechsel wahrnehmen.“ Manchmal überlagern sich die Bilder, manchmal tauchen Teile plötzlich auf und verschwinden wieder, oder sie verwandeln sich in wellenartigen Bewegungen von einer Seite zur anderen.
Individuelle Signaturen
41 Personen nahmen an den Experimenten teil, die in mehrwöchigen Abständen wiederholt wurden. Etwas hat sich klar gezeigt, erklärt die Forscherin: „Jeder Mensch nimmt Übergänge anders wahr“. Und die Testpersonen erlebten unabhängig vom Testzeitraum immer die gleiche Art an Übergängen. „Es gibt also persönliche Signaturen der Wahrnehmung“, folgert Zaretskaya. Diese Entdeckung könnte der Schlüssel zum Verständnis sein, wo sich unser Bewusstsein im Gehirn befindet. „Für die Forschung bedeutet dies, dass wir uns viel intensiver mit diesem Phänomen beschäftigen müssen.“
Neben dem Verständnis unseres Bewusstseins helfen die Ergebnisse auch, neurodiverse Menschen besser zu verstehen – etwa bei ADHS oder Autismus. „Diese Personen brauchen oft länger, um die Bildwechsel wahrzunehmen“, erklärt Zaretskaya. „Unsere Forschung liefert nun eine Grundlage für weitere Untersuchungen. Wenn bestimmte Übergänge bei Menschen mit ADHS oder Autismus häufiger sind, kann man möglicherweise genauere Diagnose-Methoden entwickeln. Wir stehen aber erst am Anfang dieser Reise“, erklärt Naretskaya. Als Nächstes wollen die Forscher den Test wiederholen und dabei gleichzeitig die Gehirnströme mit einem EEG messen. ‚Wir wollen herausfinden, ob sich die unterschiedlichen Wahrnehmungen auch dort zeigen‘, schließt die Neurowissenschaftlerin.
Publikation
The complexity of human subjective experience during binocular rivalry; https://doi.org/10.1093/nc/niaf004
; Neuroscience of Consciousness, Volume 2025, Issue 1, 2025, niaf004,